Es war einmal …

… Mitte der 70iger Jahre. Berlin-Wedding. Später Nachmittag. Bernauer- Ecke Wolliner Straße. Mein Freund Konrad und ich machten einen Fotospaziergang. Vor der Berliner Mauer standen nur noch die alten völlig verrotteten Häuser-Fassaden der Bernauer Straße. Man konnte durch die Fensteröffnungen und herausgerissenen Eingangs-Türen auf das Grau der Berliner Mauer sehen. Es war ein Bild wie aus einem surrealistischen Film. Wir kletterten auf einen dieser Aussichtsplattform, auf denen man den „Brüdern und Schwestern“  drüben zuwinken konnte. Außer den Grenzposten, die uns mit dem Fernglas beobachteten, waren kaum Leute unterwegs.

Konrad erzählte eine Geschichte aus der gegenüberliegenden Eck-Kneipe in der Schwedter Straße, auf der anderen Seite der Mauer. Er war mehr als doppelt so alt wie ich, kannte also Berlin noch lange vor dem Mauerbau und war wohl früher in sämtlichen Berliner Eckkneipen zuhause.

Plötzlich liefen da mehrere Katzen über die Straße. Die kamen aus dem unbewohnten Streifen zwischen Mauer und Fassade. Und es wurden immer mehr. Auch aus den Eingängen des Neubaugebiets gegenüber in der Wolliner Straße kamen welche. Einige der Katzen begrüßten sich mit gegenseitigem Kopf-an-Kopf reiben. Alle Katzen liefen langsam in Richtung Kohlenplatz, der sich gegenüber des Neubaus der Wolliner Straße befand. (Heute ist da eine Spielplatz) Dort versammelten sich alle vor der Toreinfahrt und blickten Richtung Brunnenstraße.

Was passiert denn da? Da versammeln sich ca. 30 bis 40 Katzen? Eine der jüngeren Katzen lief langsam mit erhobenem Schwanz  Richtung Brunnenstraße. Und da vermuteten wir in einiger Entfernung des Rätsels Lösung: Eine alte Frau mit zwei dicken Einkaufstaschen kam langsam die Bernauer Straße entlang und wurde mit Kopf-an-den-Beinen-Reiben von der jungen Katze begrüßt. Vor der Toreinfahrt liefen die anderen Katzen aufgeregt durcheinander und schnurrten ein durchaus hörbares Konzert.

Wir hörten, wie die Frau jede Katze mit Namen begrüßte. „Nu Mariellchen – du kriechst auch was“ Offensichtlich stammte sie aus (ehemals) Ostpreußen. Sie machte ihre Taschen auf und holte jede Menge „Fresschen“  heraus. Und jede Katze bekam etwas. Es gab kein Gedränge und keinen Streit. Es fehlte nur noch, dass die Katzen sich in Reih und Glied anstellten.

Dies ist eine wahre Geschichte und wir hatten beide wirklich nix geraucht.

Wie würde man so etwas bei Menschen nennen? Sozialismus? Matriarchat? Almosenstaat? Diktatur des Fressen? Nestlé würde sagen: mit Danone kriegen wir sie alle. Fakt ist: es herrschte Frieden. Und das bei Katzen? Sind die nicht eigentlich bekannt als ziemliche Einzelgänger und Reviertiger, die sich durchaus öfter heftig fetzen?

Meine (nicht unbedingt wissenschaftliche) Analyse: Einer unserer eigenen wesentlichen unterbewussten Triebe ist unter anderem der Fressneid. Entzieht man diesem langfristig die Grundlage (und  versucht auch diesen Zusammenhang zu verstehen), lässt es sich doch vermutlich vortrefflich friedlich miteinander auskommen. (Was sagt eigentlich Sigmund Freud zu diesem Trieb?) Ich habe das immer wieder in meiner über 50-jährigen pädagogischen Laufbahn in der Kinder- oder Jugendarbeit erlebt: anfangs hatte man das Gefühl, die Kinder hätten 4 Wochen nichts zu essen bekommen und jeder hat furchtbare Angst, nicht genug ab zu bekommen. Erst wenn es über einen längeren Zeitraum gelungen ist, ausreichend und gutes Essen bereit zu stellen, wurde es eine friedliche und entspannte Atmosphäre. Ist dieser unbewusste Trieb (obwohl wir ja eigentlich alle satt sind) nicht auch Ursache von Neid und Missgunst. Solange wir nicht wissen, was der andere im Teller hat, wird sich das wohl auch nicht ändern. Und ändern kann das nur die Gemeinschaft.

Das ist jedenfalls meine These.